Im Leben aufrecht gehen – So ermöglichen Sie Krippenkindern Autonomie und Selbstbewusstsein

Aufrecht gehen durch ihr ganzes Leben – das wünschen wir allen Kindern, die wir als Erzieherinnen ein Stück auf ihrem Lebensweg begleiten durften. Aufrecht gehen – das ist ein schönes Bild für Selbstbewusstsein, Stärke und selbstbestimmtes Handeln. In der Krippe dürfen Sie diese Entwicklung der Kleinkinder hautnah miterleben. Zwischen 10 und 20 Monate braucht ein Kind, bis es sich aufrichtet und seine ersten Schritte wagt.

Spannendes aus Ungarn

Etwa 50 Jahre ist es her, dass Margit Hirsch, eine ungarische Psychologin, eine verblüffende Entdeckung machte. Seit den 30er Jahren war bekannt, dass Heimerziehung die Kinder hospitalisiert. Diese Kinder waren auch als Erwachsene kaum in der Lage, ein normales Familienleben aufzubauen und sich in eine Gemeinschaft zu integrieren. Häufig waren sie drogen- und kriminalitätsgefährdet. Umso überraschter war Margit Hirsch, als sie ehemalige Heimkinder traf, die sich nicht von anderen Erwachsenen unterschieden, die in normalen Familien aufgewachsenen waren.

Die ehemaligen Heimkinder wuchsen in Ungarn im Lóczy auf, einer von Emmi Pickler geführten Einrichtung. Dort werden bis heute Emmi Picklers Grundsätze angewandt: nämlich die aufmerksame, respektvolle Pflege der Kinder und die Möglichkeit zum selbstständigen, eigeninitiierten Spiel. Und dazu gehört auch das Aufrichten der Kinder aus eigener Kraft.

Die Psychologin schlussfolgerte: Das Aufrichten aus eigener Kraft schützt vor Hospitalismus. Heute würden wir sagen: Es stärkt die Resilienz, wenn Kinder sich selbstbestimmt und aus eigener Kraft aufrichten und zu laufen beginnen.

Was heißt das für Ihre Arbeit?

2 wichtige Voraussetzungen erfüllen Sie sicher bereits:

  • Sie arbeiten an einer sicheren Bindung zwischen Ihnen und den Kindern. Diese ist Grundvoraussetzung für die Lebensneugier der Kinder und deren Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten.
  • Sie beobachten und kennen die Kinder sehr genau: Wer geht wie an neue Herausforderungen heran? Welcher Entwicklungsschritt steht gerade an? Wer kann sich und seine Fähigkeiten wie gut einschätzen?

Emmi Picklers Konzept setzen Sie um, indem Sie

  • die Kinder genau beobachten und so herausfinden, welches Material oder räumliche Anregungen hilfreich für das Kind sind,
  • sich in die Bewegungen der Kinder nur dann einmischen, wenn Sie sie vor unmittelbaren Gefahren schützen müssen,
  • anerkennen, dass sich ein Kind nicht dem Lehrbuch oder den Vorstellungen der Eltern entsprechend entwickelt, und
  • es aushalten, sich nicht einzumischen, wenn z. B. nur noch eine Hand von Ihnen nötig wäre, damit das Kind zu laufen beginnt.

Beobachten Sie sich selbst genau: Wann greifen Sie unbewusst und wohlmeinend ein, um einem Kind aufzuhelfen, es beim Stehen oder Gehen zu unterstützen? Sprechen Sie mit Ihrer Kollegin darüber und tauschen Sie sich über Ihre gegenseitigen Beobachtungen aus.

Ein gestaltetes Umfeld unterstützt die Kinder

Neben Ihrer bewussten Zurückhaltung können Sie Ihr Raumangebot unter die Lupe nehmen: Was regt die Kinder dazu an, selbstständig z. B. ihr Gleichgewicht, verschiedene Ebenen oder unterschiedliche Höhen zu erforschen? Diese Materialien eignen sich beispielsweise dazu:

  • Holzbrett, das über einen dicken Ast gelegt wurde, um mit Balance und schiefer Ebene zu experimentieren,
  • dicke Polster, mit denen verschiedene Stufen – auch abwärts! – „erkrabbelt“ werden können, oder
  • Podeste als zweite Ebene.

Ergänzen Sie den Gruppenraum und Ihr Außenspielgelände immer wieder mit Material, das die Kinder einlädt, sich auszuprobieren.

Das aufrechte Gehen ist auch ein Bild für Mut, das Sprechen auf gleicher Augenhöhe und das Vertreten der eigenen Meinung. Vielleicht ist es vermessen, eine solch große Brücke zwischen dem Aufrichten aus eigener Kraft und dem aufrechten Gang zu schlagen. Doch wer weiß?