Lebensklug, nicht nur schlau – So stärken Sie die emotionale Intelligenz der Kinder

Johann Wolfgang von Goethe nannte es „Herzensbildung“, heute heißt es „emotionale Intelligenz“. Gemeint ist die Fähigkeit, seine Gefühle zu kennen und so zu nutzen, dass die persönlichen Talente und Fähigkeiten voll ausgeschöpft und Zufriedenheit und Lebensglück erreicht werden. Wir Erzieherinnen stehen also in der Verantwortung, nicht nur den Kopf der Kinder zu bilden, sondern auch ihre Herzen.

Was steckt hinter der emotionalen Intelligenz?

Weltweit bekannt wurde der Begriff durch den Bestseller „Emotionale Intelligenz“ des amerikanischen Psychologen und Publizisten Daniel Goleman aus dem Jahr 2000. Mit der emotionalen Intelligenz vereinte er die beiden scheinbar gegensätzlichen Welten des Denkens und Fühlens. Die Hirnforschung weiß heute, dass der Körper, das Denken und Fühlen als Einheit funktionieren und durch neuronale Netzwerke eng miteinander verbunden sind.

Die emotionale Intelligenz umfasst nach Goleman 5 Bausteine:

  • Selbstwahrnehmung,
  • Selbststeuerung,
  • Motivation,
  • Empathie und
  • soziale Kompetenz.

Kinder zu Menschen mit Herz und Verstand bilden – dieses große Ziel gelingt Ihnen in 5 Schritten, in denen Sie die Bausteine der emotionalen Intelligenz wiedererkennen.

1. Schritt: Gefühle kennen lernen

Ein wichtiger Baustein für die emotionale Intelligenz ist die Kenntnis der eigenen Gefühle. Die eigenen Gefühle wahrzunehmen und zu erkennen hängt eng mit dem Kennenlernen des eigenen Körpers zusammen. Um Zugang zu seinen Gefühlen zu finden, muss das Kind also seine Körperteile kennen lernen, seinen Körperausdruck, Bewegung ebenso wie Entspannung. Deshalb sollten Sie den Kindern möglichst viel Bewegungsfreiheit ermöglichen, damit sie lernen, sich ihres Körpers bewusst zu werden und sich darin wohl zu fühlen. Neben dem Spiel im Freien können Sie zusätzlich überlegen, wo Sie Bewegung auch im Haus ermöglichen. Lassen sich möglicherweise der Flur oder die Turnhalle viel häufiger nutzen als bisher?

Die Kinder wollen sich beim Toben und spielerischen Raufen spüren, daneben brauchen sie aber auch viel emotionale Nähe: Sie wollen kuscheln, gestreichelt und liebkost werden. Scheuen Sie sich keinesfalls vor körperlichem Kontakt zu den Kindern – je jünger die Kinder, desto mehr! Die Kinder brauchen täglich Ihr Lächeln, Ihre aufmunternden Worte und Ihre liebevollen Gesten. Schnell finden Sie heraus, welches Kind gerne über den Kopf gestreichelt wird, wer ein sanftes Schulterdrücken mag und welche Kinder eine Ruhephase auf Ihrem Schoß brauchen. Nehmen Sie auch Kinder, die keinen körperlichen Kontakt suchen, spielerisch in den Arm, z. B. beim Fangenspielen.

Achten Sie darauf, dass jedes Kind das, was es bereits allein kann, auch allein tun darf, z. B. sich selbst anziehen, Tee einschenken, Treppen allein steigen. Nur so spürt das Kind, dass Sie ihm etwas zutrauen, und entwickelt ein Gespür für seine Fähigkeiten. Nehmen Sie in Kauf, wenn es dafür manches Mal etwas länger dauert. Und ist dafür einmal keine Zeit, dann erklären Sie dem Kind, warum. Ermöglichen Sie dem Kind, eigene Wege aus Problemen zu finden, anstatt vorschnell Hilfe anzubieten oder Lösungen überzustülpen. So wird es lernen, Frustration, aber auch Zufriedenheit und Stolz zu erleben. Machen Sie das Kind auf so erreichte Lernfortschritte aufmerksam, z. B.: „Toll, wie du das jetzt schon kannst! Wie hast du das gemacht?“ Und schärfen Sie Ihren Blick vor allem für die Lernfortschritte und Kompetenzen des Kindes, statt auf seine Defizite und Schwächen zu achten. Diesen wohlwollenden Blick auf sich selbst wird das Kind durch Ihr Vorbild lernen.

2. Schritt: Gefühle managen

Furcht macht starr, Zorn macht blind und Trauer lähmt – aber nur, wenn man seinen Gefühlen hilflos ausgeliefert ist. Emotionen nicht nur zu erleben und bei sich wahrzunehmen, sondern konstruktiv damit umzugehen ist wichtiger Bestandteil der emotionalen Intelligenz. Indem Kinder ihre Gefühle managen lernen, können sie

  • Wut und Zorn besänftigen, zornige Gedanken hinterfragen und möglichst neu bewerten,
  • Angst und Sorgen überwinden, die Auslöser erkennen und eine bewusste Haltung dazu einnehmen,
  • Traurigkeit anerkennen und vermeiden, dass sie zur Depression wird.

Diese großen Ziele gelingen den Kindern Stück für Stück, wenn sie bei Ihnen Unterstützung erfahren. Dabei ist es besonders wichtig, dass Sie den Gefühlen der Kinder Raum geben, also

  • Trauer nicht beschönigen: „Wenn der Teddy verloren ist, spielst du eben mit einem anderen Kuscheltier!“, sondern gemeinsam auszuhalten: „Ich verstehe, dass du traurig bist. Gemeinsam wird uns etwas dagegen einfallen“;
  • auch Wut und Schreien zulassen, solange nichts kaputtgeht oder andere Kinder darunter leiden. Möglicherweise gibt es auf dem Flur ein Wutkissen, in das geboxt werden darf;
  • Ängste nicht abtun, also statt zu sagen: „Der Hund tut dir nichts!“, mit dem Kind zusammen überlegen, wie die Angst bekämpft werden kann.

Ist der Wutanfall verraucht, fordern Sie das Kind auf, seine Wut in Worte zu fassen: „Was war los und wie kann das das nächste Mal verhindert werden?“ Lassen Sie sich durch Schmollen aber nicht unter Druck setzen. Äußern Sie klar Ihre Meinung: „Ich will dir helfen. Wenn du weißt, was du willst, dann findest du mich hier.“

Laden Sie die Kinder möglichst oft ein, über ihre Gefühle zu sprechen: „Wie geht es dir? Was hat dich so fröhlich / traurig gemacht? Was denkst du darüber?“ Sie werden bei den Kindern wie in den anderen Entwicklungsbereichen auch beim Managen ihrer Gefühle Fortschritte erkennen. Spiegeln Sie diese den Kindern möglichst direkt: „Das letzte Mal hast du alle Karten vom Tisch gefegt, als du verloren hast. Jetzt hast du es geschafft, mir von deiner Wut zu erzählen, ohne etwas kaputtzumachen.“

3. Schritt: Gefühle nutzen

Damit das Kind lernt, seine „Emotionen in den Dienst eines Zieles zu stellen“, braucht es laut Daniel Goleman viel Selbstbeherrschung und Selbstmotivation. Dazu muss es folgende Stufen überwinden, nämlich lernen,

  • seine Impulse zu kontrollieren, um Selbstbeherrschung zu gewinnen, und
  • Optimismus zu gewinnen, um sich selbst motivieren zu können.

„Kennt ihr das sicherste Merkmal, euer Kind unglücklich zu machen? Gewöhnt es daran, alles zu bekommen! Denn seine Wünsche wachsen unaufhaltsam mit der Leichtigkeit ihrer Erfüllung.“ Das erkannte bereits im 17. Jahrhundert der Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Kinder müssen lernen, ihre Impulse zu kontrollieren und Bedürfnisse aufzuschieben. In Ihrer Gruppe ergeben sich immer wieder Gelegenheiten für die Kinder, sich darin zu üben. Das beginnt schon damit, dass sie darauf aufmerksam gemacht werden, nicht in Gespräche zu platzen, sondern auf deren Ende zu warten. Sie müssen warten, ein bestimmtes Spielzeug zu bekommen, weil eben noch ein anderes Kind damit spielt. Vieles geht nicht sofort, weil andere Kinder auch davon betroffen sind. Besonders wichtig ist es, dass Sie die Kinder loben und anerkennen, wenn es ihnen gelungen ist zu warten. So wird ihnen diese Fähigkeit bewusst.

Innerer Motor für eine optimistische Herangehensweise bei Aufgaben ist der Satz: „Ich schaffe es bestimmt!“ Und Kinder sind zu Optimisten geboren. Doch müssen sie lernen, dass Niederlagen und Misserfolge beeinfluss- und veränderbare Größen darstellen – genauso wie Erfolge. Dazu ist es wichtig, dass die Kinder

  • die Möglichkeit haben, Konflikte auszutragen: Greifen Sie so spät wie möglich ein und fordern Sie die Kinder dann zu eigenen Lösungsvorschlägen auf;
  • Probleme selbst versuchen zu lösen: Achten Sie darauf, nicht vorschnell Lösungen zu präsentieren, sondern halten Sie es aus, wenn Kinder selbst ausprobieren;
  • Schmerz als Gegenpol zum Glücklichsein ganz natürlich erleben: Lenken Sie Kinder also nicht ab, wenn sie z. B. hingefallen sind oder traurig sind, sondern vermitteln Sie vielmehr: „Ich weiß, dass es weh tut. Ich nehme dich in die Arme und gemeinsam schaffen wir es!“;
  • ein Vorbild in Ihnen finden, positiv zu denken. Achten Sie selbst darauf, kein allzu großer Bedenkenträger zu sein und gelassen zu bleiben, wenn Sie nicht wissen, wie etwas ausgeht.

Erkennen Sie Erfolge der Kinder möglichst immer direkt an, und verdeutlichen Sie, was die Kinder geleistet haben.

4. Schritt: Empathie lernen

Auf dem Weg vom „Ich“ zum „Du“ vollziehen die Kinder viele kleine Bewusstseinsschritte, z. B. indem sie

  • versuchen, die Gefühle eines anderen Menschen wahrzunehmen,
  • die Gefühle des anderen mit eigenen Erfahrungen vergleichen,
  • von sich selbst „zurücktreten“ und den anderen aus seiner Lage und nicht aus der eigenen wahrnehmen,
  • versuchen, emotionalen Einklang zwischen sich und anderen Kindern herzustellen,
  • wissen, was sie selbst tun können, damit es dem anderen gut geht.

Um über die eigenen Bedürfnisse hinausschauen zu können, muss sich das Kind anerkannt und gemocht fühlen. Zeigen Sie das, sooft es geht, z. B. mit einer liebevollen Geste oder anerkennenden Worten.

Wertschätzung anderen Menschen gegenüber hängt eng mit der Achtung vor Dingen zusammen. Deshalb ist auch ein fürsorglicher, respektvoller Umgang mit den Gegenständen im Umfeld wichtig.

Um die Gefühle der anderen Menschen kennen zu lernen, muss das Kind sie erfahren. Sprechen Sie selbst deshalb immer wieder Ihre Gefühle an, z. B.: „Ich bin richtig stolz auf dich!“ oder „Mich macht es traurig, wenn du …“ Verdeutlichen Sie auch die Gefühle der anderen Kinder: „Ich glaube, dass Max jetzt wütend ist, weil …“ oder „Was glaubst du, wie sich Lena fühlt, wenn …?“

Gruppen- und Projektarbeiten und selbst organisiertes Lernen ermöglichen ein großes Übungsfeld zur Empathie.

5. Schritt: Freundschaften gestalten

Eine Freundschaft zu gestalten ist wohl eine der höchsten Anforderungen an die emotionale Kompetenz eines Kindes. Eigene Bedürfnisse mit denen des anderen auszuloten, Kompromisse anzuerkennen, andere zu begeistern mit eigenen Ideen und vieles mehr sind hier gefordert. Das will geübt sein, und hier bietet sich ausreichend Raum im Gruppenalltag. Konflikte konstruktiv zu lösen stellt eine echte Herausforderung für die Kinder dar. Stellen Sie deshalb in Ihrer Gruppe verbindliche Streitregeln auf, z. B.:

  • „Wir schlagen nicht, sondern reden.“
  • „Wir gehen nie zu mehreren auf ein Kind los.“
  • „Wir lassen die anderen Kinder ausreden.“
  • „Wir suchen gemeinsam nach einer Lösung unseres Streits.“
  • „Alle Vorschläge zur Lösung des Streits gelten gleich viel.“
  • „Wenn jemand sehr wütend ist, warten wir erst, bis die Wut verraucht ist.“
  • „Streit endet immer mit Versöhnung.“

Ein wichtiges Übungsfeld dieser sozialen Kompetenzen sind auch Kinderkonferenzen oder Kinderparlamente.

„Emotionen und Gefühle sind die persönlichsten, elementarsten und mächtigsten Antriebskräfte des Menschen“, sagte der Dirigent Yehudi Menuhin. Mit Ihrer Unterstützung und Ihrem Vorbild lernen die Kinder, diese Kräfte zu beherrschen und nicht nur schlau zu werden, sondern lebensklug.